“Für mich ist Yoga …”

Diesen Satzanfang findet man oft in der Beschreibung von YogalehrerInnen und Yoga Praktizierenden. Was dahinter kommt ist jedoch sehr individuell und vielfältig.
Was Yoga für dich ist, kannst nur du dir beantworten. Mich auf jeden Fall würde die Vielfalt eurer Antworten sehr interessieren. Wenn du magst, schicke mir per Email doch deine kurze Antwort (nora@akasha-berlin.de).

Ich will in diesem Newsletter meiner Aussage “Für mich ist Yoga …” nachgehen, möchte Ideen über die Bedeutung und Hintergrundwissen über diesen Gefühlszustand aus meiner Sicht kurz beleuchten.

 "Für mich ist Yoga wie zu mir selbst nach Hause kommen!"

Im Alltag verliere ich meine eigenen Bedürfnisse, Befindlichkeiten und Vorsätze gern einmal in der Hektik des Alltags und des Lebens aus den Augen. Die alltäglichen Anforderungen sind getaktet, erfordern mitunter schnelles Handeln und Entscheidungen. Und an besonders vollen Tagen drehen sich die Gedanken in meinem Kopf immer weiter. Es ist, als könnte mein Gehirn nicht von diesem Tempo runter kommen. Alles spielt dabei in meinem Kopf eine Rolle - das führt dazu, dass ich meinen Körper nicht mehr wahrnehme, Durst nicht mehr wahrnehme usw. Gehe ich in diesem Zustand auf die Yogamatte und praktiziere Yoga (egal ob Asanas, Atemübungen oder Meditation), dann spüre ich zunächst, wie mein Körper wieder fühlbar wird. Mit diesem Fühlen des Körpers verlangsamt sich das Gedankenkarussell. Und immer öfter, je länger und regelmäßiger ich Yoga praktiziere, finden Geist und Körper zueinander. Es ist ein Gefühl des gemeinsamen Fließens, als würden mein Körper und mein Geist zusammen tanzen. Und genau deshalb sage ich: “Für mich ist Yoga wie zu mir selbst nach Hause kommen!”

 Lässt sich dieses Gefühl in der Yogaphilosophie wiederfinden?

Yoga Sutra 1.2 - “Yoga ist jener innere Zustand, in dem die seelisch-geistigen Vorgänge zur Ruhe kommen!”
Yoga Sutra 1.3 - ”Dann ruht der Sehende (Yogi) in seiner Wesensidentität!”
Bettina Bäumer “Die Wurzeln des Yoga - die klassischen Lehrsprüche des Patanjali”

 

Es gibt unzählige Übersetzungen der Yoga Sutren des Patanjali. Sie weichen in der Deutung einzelner Wörter voneinander ab, meinen aber am Ende immer alle das Gleiche. 
Die beiden oben genannten Sutren zeigen uns letztendlich das Ziel oder Ergebnis der Yogapraxis: das zur Ruhe kommen des Geistes und das Ruhen in uns selbst.

Bevor ich die YogalehrerInnen Ausbildung machte, beschrieb ich Yoga für mich schon genauso wie oben - als nach Hause kommen zu mir selbst. Im Rahmen der Ausbildung fand ich direkt in den ersten Sutren die Bestätigung dafür. Bis ich erkannte, dass das zu kurz gedacht ist. Denn dann könnte ich aufhören mit Yoga - NEIN, das ist ein Trugschluss. Das zur Ruhe kommen des Geistes ist sowohl Ziel als auch Weg. Und mit Weg ist das Erkennen der eigenen Wesensidentität und ihrer “Verstrickungen” in der Welt gemeint. Erst wenn ich meinen Geist im Alltag ruhig von seelisch-geistigen Vorgängen halten kann, habe ich gleichzeitig das Ziel erreicht.


Wichtg ist zu verstehen, dass die Ruhe von seelisch-geistigen Vorgängen nicht bedeutet NICHT ZU DENKEN. Sondern seelisch-geistige Vorgänge sind grob ausgedrückt Reaktionen, die auf unseren Erfahrungen, Einstellungen, Vorurteilen, Ängsten usw. basieren. Reaktionen sowohl in unserem Geist in Form von Gedanken und Gefühlen als auch im Handeln selbst in Form von z.B. Flucht oder Kämpfen.
Begegnet man einer Situation im Alltag, die ein eigenes Vorurteil bestätigt, dann wird die Reaktion das Vorurteil noch weiter verstärken. Das zur Ruhe kommen der seelisch-geistigen Vorgänge meint aber, sich frei zu machen von Vorurteilen und der Situation ohne Vorurteil zu begegnen.


Unsere innerste Wesensidentität ist frei von Vorurteilen, von Ängsten, von sogenannten Lebensweisheiten usw. Sie ist offen gegenüber allem und allen. Diese Wesensidentität für einen Moment während der Praxis zu spüren, ist der Moment des nach Hause kommens zu mir selbst. Es ist ein Prozess des sich selbst erkennen mit all seinen Stärken und Schwächen und des Akzeptierens aller dieser Seiten.

 Warum ist das so schwer?

 Ein Phänomen unseres Geistes ist, dass er in den seltensten Fällen am gleichen Ort ist wie unser Körper. Die beiden Hauptkomponenten unserer Existenz laufen getrennt voneinander und hintereinander her. Du kennst dieses Phänomen aus deinem Alltag zur Genüge:

  • während der Heimfahrt schnell noch im Kopf den Einkaufszettel schreiben

  • während der Haus- oder Gartenarbeit die Logistikprobleme des nächsten Tages versuchen zu lösen

  • sich in Gedanken den Besuch bei den Eltern ausmalen obwohl man schon im Bett liegt

  • während der Autofahrt das letzte Gespräch mit den Vorgesetzten in Gedanken wieder und wieder durchkauen usw.

 Es ist eine unendlich fortsetzbare Liste. Ständig ist der Geist entweder in der Vergangenheit, die wir nicht mehr ändern können, oder in der Zukunft unterwegs und fast nie dort, wo der Körper gerade ist.
Wir nennen dieses Phänomen das `Nicht Gegenwärtig Sein`. Ihm beizukommen ist eines der Ziele und einer der Wege der Achtsamkeitspraxis. Diese Übungen dienen unter anderem dazu, eine Einheit von Körper und Geist herzustellen. Beide sollen am gleichen Ort und mit der gleichen Sache beschäftigt sein.

 Grob könnte man sagen, dass auch Yoga eine Achtsamkeitsübung ist. Alle 8 Yogapfade bieten das Potenzial, achtsam und gegenwärtig zu sein bzw. zu werden.
In der Yogapraxis im Studio erreichen wir diesen Zustand relativ oft, da die Praxis dem Geist einen Fokus bietet. Dieser Fokus ist je nach Stunde der Atem, die Sinne, der Körper selbst - der Fokus ist immer körpernah oder sogar gänzlich der Körper. Und genau diese Fokussierung bringt dieses Gefühl von Ruhe im Geist. Erst diese Ruhe birgt das Potenzial, seine eigene Wesensidentität zu erkennen.

 Wohin kann die Yogareise gehen?

 ”Für mich ist Yoga wie zu mir selbst nach Hause kommen!”

Wir erfüllen in unserem Alltag viele verschiedene Rollen. Manche der Rollen bauen wir uns selbst, bei anderen folgen wir Rollenbildern, die in unserem Kontext weitestgehend akzeptiert sind. Und trotzdem sind alles das nur Rollen: Tochter/Sohn, Mutter/Vater, Kollegin/Kollege, Ingenieurin/Ingenieur, Verkäuferin/Verkäufer … Wir können in diese Rollen Teile von uns selbst einfließen lassen, können aber niemals ganz und gar wir selbst sein. In allen diesen Rollen erfüllen wir Erwartungen und gehen Kompromisse ein.


Die spannendste Frage in meinem Leben war und ist für mich die Frage “Wer bin ich, wenn ich keine dieser Rollen bin?” Diese Frage zielt in meinen Augen auf unsere Wesensidentität. Auf das in mir, was mich wirklich ausmacht - meine Neugier, meine Suche nach Antworten, meine Verbundenheit mit der Natur und dem Leben, mein Respekt vor allem Leben und jedem Menschen …. Wir neigen dazu, diese Frage schnell zu beantworten und zu meinen wir wüssten, wer wir sind. Ich selbst bin noch immer dabei mich jenseits meiner Rollen kennezulernen.
Es hat mich viele Jahre gekostet, mir meine Ängste einzugestehen und noch länger, so zu leben, dass sie mich nicht einschränken. Es hat mich viele Jahre gekostet zu erkennen, dass jeder Mensch, unabhängig von seiner Herkunft, seinem Aussehen, seinem biologischen oder gewählten Geschlecht das gleiche Anrecht auf Glück an jedem Ort dieser Welt hat wie ich und noch länger, den Mut zu finden mich aktiv dafür auszusprechen.
Um zu unserer Wesensidentität vorzudringen, müssen wir unsere eigenen Antworten immer wieder kritisch hinterfragen.

 Und dann ist da noch mehr. Wir Menschen sind soziale Wesen. Wir leben in einer Gesellschaft und es ist unsere Aufgabe diese Gesellschaft mitzugestalten.
Irgendwann erkannte ich, dass die Beschäftigung mit mir selbst, mit meiner Wesensidentität nur der Startpunkt für Weiteres ist. Ab hier beginnt das Leben sich zu verändern. Nähert man sich seiner Wesensidentität nähert man sich auch seinen Werten. Kennt man seine Werte und läuft mit offenen Augen durch die Welt, wird einem bewusst, dass man sich für seine Werte und die yogischen Werte einsetzen muss. Aktiv werden und für Werte einstehen, sich in der Gesellschaft engagieren, in der Diskussion mit den Menschen bleiben, helfen wo Hilfe nötig ist, kämpfen wo Kampf nötig ist - neugierig bleiben auf das Leben und die Menschen ohne Vorurteile und Ängste inmitten einer Gesellschaft. Das ist nur möglich, wenn man vorher zu sich selbst nach Hause gekommen ist.

 

Für mich ist die Yogapraxis der Punkt im Alltag, an dem ich mich auf den Weg zu mir selbst nach Hause machen kann. Und allein für dieses Gefühl - dass ich losgehen kann, dass es etwas gibt bei dem ich ankommen und das ich kennenlernen kann - ist es die Qual so mancher Yogastunde wert.

Weiter
Weiter

Fasten und Detoxen mit Ayurveda unterstützen